Die verschnürten Briefe
Dichterlesung mit Bernd Gehringer
Szenisch gelesen vom Autor und Lena Hegel
Bernd Gehringer kam mit einem interessanten Projekt an das Gymnasium Marktbreit. Er stellte seinen neuen Roman vor, in dem er am Leitfaden des Briefwechsels seiner Eltern als junges Paar deren Lebensgeschichten miteinander verwob und vor allem das allmähliche Entstehen ihrer Liebesbeziehung festhielt.
Auf dem Dachboden seines Elternhauses in Rothenburg ob der Tauber fand er vor vielen Jahren eine Schachtel mit sorgsam verschnürten Briefen. Sie enthielt die Zeugnisse der allmählich entstehenden Liebesbeziehung zwischen seiner zu Beginn des Briefwechsels sechzehnjährigen Mutter und seinem um ein gutes Jahr älterem Vater. Eine lange gehegte Idee hat nun endlich Gestalt angenommen. Bernd Gehringer verwob die Briefe, die er teilweise im Original zitiert und teilweise inhaltlich gerafft wiedergibt, zu einem einzigartig feinfühligen, weil sehr authentischen und intim-privaten Text, der in dokumentarisch schnörkelloser Manier die Geschichte zweier junger Leben während der Zeit des Zweiten Weltkriegs und in der frühen Nachkriegszeit schildert. Die vielen Fotografien aus dem Familienalbum der Gehringers lassen den Text auf eine eindrucksvoll unmittelbare Art und Weise lebendig werden.
Das hat auch die Schülerinnen und Schüler der Q11 am Gymnasium Marktbreit beeindruckt. Bernd Gehringer schlüpfte während der Lesung in die Rolle seines Vaters, seine Lesepartnerin Lena Hegel übernahm den Part der Mutter. An die Leinwand im Hintergrund wurden Fotos aus dem wahren Leben der Gehringers projiziert. Das verlieh der Lesung Echtheit und Gegenwärtigkeit, die beeindruckte.
Besonders nachhaltig wirkte im Verlauf der Lesung, dass man hier Zeitgeschichte einmal nicht aus der analytisch reflektierten Perspektive des Geschichtsunterrichts erlebte, sondern durch die ungefilterte und auch äußerst unkritische Brille zweier junger Heranwachsender. Die ekstatischer Beschreibungen der Erlebnisse während eines Zeltlager der Hitlerjugend und das ungestümes Warten des jungen Mannes auf seinen Kampfeinsatz im Krieg befremdeten und faszinierten gleichermaßen. An seinen Gefühlsäußerungen ließ sich sehr gut die Verführbarkeit der deutschen Jugend ablesen, die erfüllt von scheinbar lauteren Werten wie Tapferkeit, Mut und Willensstärke nicht erkannte, dass sie zum willfährigen Werkzeug eines barbarischen Unrechtsregime umfunktioniert und missbraucht wurde. Der Vater erzählte in seinem Briefen immer wieder, ohne es auch nur ansatzweise zu begreifen, wie fließend das Regime in der faschistischen Früherziehung die Grenze zwischen sportlichem Wettkampf und realem militärischem Kampf zog, um die männliche deutsche Jugend mental und physisch auf ihre eigentliche Bestimmung, für das Hitlerregime in den Tod zu gehen, vorzubereiten. Dass er nichts als Kanonenfutter war, nichts weiter als ein Mittel zu einem perfiden Zweck, verstand der glühende Regimegetreue in seiner Verblendung nicht.
Erfahren durften die Schülerinnen und Schüler auch Erlebnisse, wie sie in keinem Geschichtsbuch zu finden sind. Dazu gehörte etwa eine Episode aus einem Kriegsgefangenenlager der Amerikaner in der Oberpfalz, in dem eines Tages vergiftetes Brot im Umlauf war, dessen Herkunft nicht zu ermitteln war. Oder die die Episode, in der die Mutter Gehringers schilderte, wie sie als jungen Frauen in den ersten Jahren nach Kriegsende durch die amerikanischen Besatzer eine völlig andere Kultur kennenlernten. Die offene, im Umgangston oft schnoddrig unkomplizierte Art der jungen amerikanischen Soldaten mit den deutschen Mädchen empfanden die weiblichen deutschen Jugendlichen mit einer Mischung aus anerzogener Verachtung und heimlicher Faszination für das Neue. Es war erstaunlich zu sehen, wie interessiert sich die Jugend von heute dem Thema erlebter Vergangenheit öffnete. Gerade dass viele Anekdoten, die zur Sprache kamen, sich mit alltäglichen Nebensächlichkeiten auseinandersetzten, verlieh der Geschichte die Anziehungskraft und den Bann, dem alle erlagen.
Bernd Gehringer bot am Ende seiner Lesung Einblicke in seine Arbeit als Autor und schilderte, mit welchen konzeptionellen Fragestellungen er sich als ein Autor an der Grenze zwischen realer Dokumentation und deren künstlerischer Aufarbeitung auseinandersetzt, um ein am Ende lesbares und spannendes Produkt auf der Ladentheke präsentieren zu können.
Friedhelm Klöhr